Die meisten Leute brauchen halt Schubladen. Schubladen beruhigen, geben Sicherheit.
Ich gehe weiter und sage: Wir alle brauchen Schubladen.
Unsere eigene Identität ist der Extremfall, wo wir meistens ziemlich heikel sind, ob nun homo, hetero, cis oder trans, Familienvater oder Millionenerbe oder wasimmer.
Eine Abstraktionsstufe höher betrachtet, besteht unser ganzer Denkapparat aus Kategorisierungen. Das ist ein Tisch, das ist eine Katze, das ist aber schon gar keine linke Meinung. Usw.
Ich meine "brauchen" nicht zynisch. Wir brauchen diese Konzepte wirklich, um uns in der Welt zurechtzufinden. Wenn ich nicht weiß, ob dieses Ding ein Sessel ist, weiß ich auch nicht, dass ich mich draufsetzen kann. Blöde Gschicht. Wenn ich nicht weiß, dass jemand eine Frau ist, könnte es böse Folgen haben, mit diesem Menschen ins Bett zu gehen.
Andererseits sind die Schubladen aber auch Fallen. Wir denken, jemand ist ein Rechter, also ein böser Mensch. Jemand ist trans, also sicher links und auch ganz schrecklich empfindlich bei Pronomen. Das ist nur Neotantra, kein authentisches
Tantra, also hast du in unserer Gruppe nichts verloren. Wenn du einmal einem hübschen Mann nachgeschaut hast, bist du kein Hetero und ich darf mich über dich lustig machen. Usw.
(Alles natürlich nur frei erfundene Beispiele. Nicht jeder denkt in jedem Fall so. Wir haben alle unsere eigenen seltsamen Zuschreibungen.)
Sich mit solchen Labels zu identifizieren, ist notwendig für die Orientierung, aber zugleich einengend. Wenn man es mit anderen Menschen tut, wird es schnell mal zur Diskriminierung.
Es ist hilfreich, wenn man sich beider Aspekte bewusst ist.
Dann kann ich nämlich sagen: Okay, du siehst dich als Hetero, obwohl du regelmäßig mit Leuten deines eigenen Geschlechts schläfst. Soll sein. Würde ich nicht so sehen, aber es ist ja nur dein eigenes Label, es ist mir egal. Okay, du siehst mich als Nicht-Hetero, weil ich mir manchmal lustvoll vorstelle, wie es wäre, einen Schwanz zu lutschen, obwohl ich es nie gemacht habe. Soll sein, es ist nur ein Label, es ist mir egal. Usw.
Zen-Buddhismus hat mir geholfen, damit klarzukommen. Ambivalent ist es trotzdem. Das hört erst auf, wenn ich ein Bodhisattva bin.
